„Gewalt ist ein Zeichen von Hilflosigkeit!“

 

PB: Herr Hofer, vor zehn Jahren haben Sie begonnen, Taekwondo in der Justizvollzugsanstalt in Aichach zu trainieren. Wie sind Sie denn auf diese Idee gekommen?

RH: Das war nicht meine Idee. Dieses Pilotprojekt ist auf eine Initiative von Frau Gisela Bartmann, die damals innerhalb des BLSV-Präsidiums für den Jugendbereich verantwortlich war, zurückzuführen. Frau Bartmann hat das ganze ins Rollen gebracht. Sie hat mich gefragt, ob ich mir zutraue, inhaftierte weibliche Jugendliche zu trainieren. Da mich die Thematik reizte, sagte ich zu und das Projekt „Antiaggressivitäts- Antigewalttraining im Strafvollzug“ war geboren. Erst später habe ich verstanden, mit welchem Weitblick und welcher Sensibilität Frau Bartmann diesen tabuisierten Bereich der Sportjugend angegangen ist.


Weshalb hat Frau Bartmann gerade Sie als Trainer ausgesucht?

Diese Frage kann ich nicht korrekt beantworten. Ich denke aber, dass es eine Verkettung von vielen Zufällen war. Frau Bartmann und ich haben uns bei einem Seminar über Kampfkunst als Gewaltprävention kennen gelernt. Ich vermute deshalb, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.


Taekwondo ist ein Kampfsport, bei dem man lernt, wie man seinen Gegner mit gezielten Schlägen und Tritten bezwingt. Was hat das mit Gewaltprävention zu tun?  

Taekwondo als Kampfsport ist die eine Seite. Hier geht es tatsächlich um ein Hochleistungs-Wettkampfsportart mit allen Begleiterscheinungen, strengen Regeln und Sicherheitsausrüstung. Denn Taekwondo ist inzwischen fester Bestandteil der Olympischen Sommerspiele. Da kommt es natürlich darauf an, gezielte Tritte und Fauststöße zu platzieren, um zu gewinnen. Hier geht es um Sieg oder Niederlage. Taekwondo als Kampfkunst hingegen verdient weitaus größere Beachtung, denn da ist die Vorgabe, sich selbst zu besiegen. Das bedeutet, dass das eigentliche Ziel nicht das Besiegen des Gegners ist, sondern das Arbeiten an sich selbst, die Vervollkommnung der Persönlichkeit in der Einheit von Geist und Körper. Beim Training werden unter anderem auch Techniken gelernt, die wechselweise mit Partnerinnen geübt werden. Gerade bei diesen Übungen können psychologische Lernziele wie Selbstkritik, Rücksichtnahme und emotionale Selbstkontrolle entwickelt werden.

Bei Wettkämpfen geht es aber dafür ganz schön zur Sache. Dort will man den Gegner doch bezwingen und darf ihn sogar niederschlagen. Das hat doch eine gewalttätige Tendenz, oder?

Nein! Auf einen Außenstehenden kann das so wirken, aber vom Prinzip her ist das nicht der Fall. Wie schon oben erwähnt, beim sportlichen Wettkampf gibt es strenge Regeln, an die sich die Wettkämpfer zu halten haben. Übungsleiter und Trainer lernen diese im Rahmen ihre Ausbildung im Fachverband. Aggressionen entstehen deshalb nicht. Welcher Wettkämpfer steigt in den Ring, um zu verlieren? Also, treten bei mit der Zuversicht an, dass sie technisch besser sind als der andere oder taktisch raffinierter. Letztendlich ist es ein sportlicher Vergleich mit Körperkontakt wie er auch beim Fußball, Eishockey oder Handball zu beobachten ist. Gewalttätige Tendenz ist nicht erkennbar. Im Gegenteil, die positive Bedeutung des Sports für den Einzelnen, aber auch für die gesamte Gesellschaft ist heute unbestritten. Und so ist auch Taekwondo ein prädestiniertes Feld zur Ausbildung von sozialer Gesinnung und sozialen Verhaltensmustern.

Was verstehen Sie denn unter dem Begriff Gewalt?

Zu diesem Thema gibt es unzählige Abhandlungen. Letztendlich ist Gewalt immer ein Zeichen der Hilflosigkeit. Im Gegensatz zum Sport richtet sich diese unbeherrschte Aggressivität in aller Regel gegen Schwächere. Außerdem laufen Gewalttätigkeiten meistens ohne Regeln ab.

Wie kann denn die Kampfkunst für eine Gewaltprävention eingesetzt werden?

Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich zunächst darüber  Gedanken machen, wie und vor allem bei wem Gewalt in seiner vielfältigen Form entsteht bzw. empfunden wird. Unter Gewalt verstehe ich verschiedene Formen und Ausdrucksweisen direkter Aggression unter Menschen, die auf die Verletzung eines Menschen abzielen. Sehr oft machen Gewalttäter in ihrer Kindheit einschlägige Erfahrungen mit der Gewalt und übernehmen später das erlernte Muster. Dabei suchen sie sich gezielt Personen aus, die sie für ein geeignetes Opfer halten. Taekwondo leistet einen Beitrag zur Förderung der Gesundheit und Harmonisierung zwischen Körper und Geist – gleichzeitig bewirkt Taekwondo eine positive Persönlichkeits- und Charakterbildung. Übrigens, eine Reihe von Sozialpädagogen wird dem Sport allgemein eine hervorragende Rolle bei der erzieherischen Integration der Jugend in die Gesellschaft zuerkannt. Die Kampfkunst wird also eingesetzt unter sozial-ethischen Idealen, wie Achtung vor dem Mitmenschen, Verantwortungsbewußtsein für den Partner, Hilfsbereitschaft, Fairness, Teamgeist und Toleranz.

Kommt denn nicht jeder als Opfer für einen Straftäter in betracht?

Unter der Prämisse „leichtes Spiel“ ohne erkannt zu werden, ja. Für bestimmte Situationen also kann dies durchaus der Fall sein, beispielsweise auch, wenn Alkohol im Spiel ist, eine Person Amok läuft oder die „Gewalttat“ als Ulk oder Streich verstanden wird. Die Kriminologie beschäftigt sich schon lange mit der Viktomologie, also mit der Lehre des Opfers. Deshalb weiß man auch, dass Straftäter ihre Opfer nach bestimmten Merkmalen aussuchen.

Von welchen Umständen hängt das denn ab?


Das potentielle Opfer hat viele Gesichter. Bei dem einen spielt die Körperhaltung, der Blick, das äußere Erscheinungsbild eine Rolle, bei dem anderen ist es die Sprache oder die Hautfarbe. Die Täter weisen meist auf ein mangelndes Selbstbewusstsein hin. Und damit sind wir auch beim Kern, auf den es letztendlich ankommt. Da selbstbewusste Menschen viel seltener als Opfer einer Straftat ausgesucht werden, ist der Aufbau von Selbstsicherheit durch Selbstbewusstsein  ist die beste Vorsorge.

Das ist aber leichter gesagt als getan, oder?


Da es sich bei dieser Art von Gewalt um die körperliche Auseinandersetzung handelt, ist der kontrollierte Umgang mit Schlägen und Tritten optimal geeignet, auf diesem Gebiet seine Ängste abzubauen. Im gleichen Maße nimmt das Selbstbewusstsein zu. Man fühlt sich nicht mehr so hilflos und weiß, dass man sich zur Not auch zur Wehr setzen kann. Allein durch dieses Wissen ändert sich das gesamte Auftreten.

Weshalb unterrichten Sie denn Taekwondo ausgerechnet in einem Gefängnis?

Weil dort viele jugendliche Frauen einsitzen, die schon selbst einmal Opfer von Gewalt geworden sind und zum Teil auch deshalb in ihrem Leben aus der Bahn geworfen wurden. Es geht, wie bereits oben dargestellt, aber auch um die Frage, ob durch ein wohl sortiertes und bedachtes Taekwondo-Training die Aggressivität und Gewaltbereitschaft der inhaftierten weiblichen Jugendlichen positiv beeinflusst werden kann, und zwar mit dem Ziel, das Sozialverhalten untereinander zu verbessern. Auf diese Weise findet die Resozialisierung der Frauen bereits während des Vollzugs statt.

Wurde denn das angestrebte Ziel erreicht?

So pauschal kann man die Frage nicht beantworten. Ursprünglich ist geplant, dass eine Gruppe von maximal zehn Frauen bis zum Ende des Projekts gemeinsam trainieren. Die relativ geringe Anzahl deshalb, um sich mit den einzelnen Teilnehmerinnen intensiver zu beschäftigten, um auch auf aufkommende Fragen während des Trainings, reagieren zu können. Nachdem einige Frauen aus welchen Gründen auch immer ausfallen, hat sich die Leitung der Vollzugsanstalt im Einvernehmen mit der zuständigen Psychologin entschlossen, neue Teilnehmerinnen in das Projekt aufzunehmen und zum Training zuzulassen.

Weshalb fielen denn so viele Frauen aus?   

Da gibt es eine Reihe von Gründen, wie hochgradige zwischenmenschliche Defekte. Aber auch, dass die anfängliche Lust am Training zur körperlichen Qual geworden ist.

Trotz allem gab es für das Projekt ein erfolgreiches Resultat?

Ja. Der Erfolg zeigte sich bei den Frauen, die beim wöchentlichen Training dabei geblieben sind. Von der Jugend-Psychologin, die das Projekt betreut, wird immer wieder in Therapiegesprächen festgestellt, dass genau diese Teilnehmerinnen viel ausgeglichener, umgänglicher und verständnisvoller geworden sind. Viele haben sich inzwischen von der Gewalt als letztes Mittel abgewandt.

Wie haben denn die Bediensteten der Justizvollzugsanstalt Aichach auf das Projekt reagiert?

Am Anfang gab es vor allem bei den Bediensteten sehr viel Skepsis. Das hat sich aber sehr schnell gelegt, da vor allem sie bei den inhaftierten Frauen eine positive Veränderung der Persönlichkeit feststellten. Dies wirkte sich natürlich auch auf den Umgang miteinander aus.

Gab es während des Trainings unter den Frauen auch mal Reibereien?


So etwas kam natürlich auch mal vor. Man sollte aber bedenken, dass dort einige Frauen und Mädchen untergebracht sind, die in einem gewalttätigen Milieu aufgewachsen sind und die Gewalt auch als Lösung für Probleme anwenden. Von der Projektleiterin, mit der ich jeweils vor und nach dem Trainingstag Gespräche führte, wurde mir berichtet, welche Frauen aus der Gruppe gerade ein Problem miteinander hatten. Ich habe dann diese beiden genau beobachtet und vermieden, dass sie miteinander trainierten.

Für welchen Zeitraum war das Projekt denn angelegt?

Das ursprüngliche Projekt war auf vier Monate angelegt. Da hier durch die Fluktuation das Training stark gelitten hatte, überlegten sich die Beteiligten, den Zeitraum zu verkürzen, um so in etwa zu garantieren, dass die Gruppe während des Blockunterrichts zusammen bleiben konnte. Wegen der guten Sache und einem gewissen Reiz, habe ich immer wieder zugesagt – bis heute. Aber anstrengend und zeitweise belastend ist es auch. Deshalb bin ich nur noch für einen Blockunterricht pro Jahr bereit, zu trainieren.

Und wie lange soll´s noch weitergehen?

Das kann ich nicht sagen.


Herr Hofer, ich danke für das Gespräch.

Zehn Jahre „Taekwondo im Strafvollzug“

 

Vor zehn Jahren gelang es Gisela Bartmann, der damaligen Vorsitzenden der Verbandsjugendleitung des BLSV, den Sportbetrieb in der Justizvollzugsanstalt Aichach zu fördern, In enger Zusammenarbeit mit der Bayerischen Taekwondo Union (BTU) wurde jugendlichen Insassinnen die Möglichkeit gegeben, an Taekwondo-Kursen teilzunehmen.

Für die Durchführung der Kurse konnte Reiner Hofer, der damalige Schulbeauftragte und heutige Präsident der BTU, gewonnen werden. Auf Grund der enormen Nachfrage wurden von ihm bis zum heutigen Tag alle bisher durchgeführten Kurse übernommen.

Für Reiner Hofer ging es aber nicht nur darum, den weiblichen Gefangenen die Grundzüge der fernöstlichen Kampfkunst Taekwondo zu vermitteln. „Von Anfang an war es das Ziel, dass den ausgesuchten Jugendlichen durch das Taekwondotraining auch Werte vermittelt werden, wie beispielsweise Rücksicht, Fairness, Toleranz, Selbstdisziplin und Hilfsbereitschaft.“

Das Projekt „Taekwondo im Strafvollzug“ stieß beim bayerischen Justizministerium auf ein großes Interesse. Dort gab man sogar eine wissenschaftliche Studie in Auftrag, um sich ein konkretes Bild über die Auswirkungen des Trainings auf die weiblichen Jugendlichen zu machen. Das Ergebnis übertraf alle Erwartungen. Es stellte sich nämlich heraus, dass bei allen Teilnehmerinnen – die ihre Haftstrafen zum Teil wegen Gewaltdelikten verbüßten - ein deutlicher Aggressionsabbau stattfand, der sich auf die Resozialisierung positiv auswirkte.  

Aus der Sicht von Reiner Hofer war die Zusammenarbeit mit den verantwortlichen Personen und Institutionen erfreulich unbürokratisch und unkompliziert. Noch wichtiger ist ihm aber die Erfahrung, die er während der letzten zehn Jahre sammeln durfte. „Jugendarbeit – auch in diesem Bereich – lohnt sich!“.